Kuru - Macht aus Gedanken (German Edition) by Birgit Böckli

Kuru - Macht aus Gedanken (German Edition) by Birgit Böckli

Autor:Birgit Böckli [Böckli, Birgit]
Die sprache: deu
Format: epub
veröffentlicht: 2017-06-19T22:00:00+00:00


Kapitel 16

Als das Telefon klingelte, schlurfte die ältere Frau auf plattgetretenen Filzpantoffeln an den Apparat. Ihre Hand zitterte, in der anderen zerknüllte sie ein Papiertaschentuch.

„Ja bitte? Tut mir leid, aber Sie müssen etwas lauter sprechen, ich kann Sie nicht verstehen. Ja, jetzt ist es besser, wie war der Name?“

Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang jung, aber ziemlich erschöpft.

„Nein, Sie können ihn wirklich nicht sprechen, es geht ihm nicht gut. Er ist krank, wissen Sie?“

„Hören Sie“, sagte Melanie, sie sprach laut und deutlich und bemühte sich, ruhig zu klingen, nicht wie eine entflohene Geisteskranke in einer Telefonzelle mit zerbrochener Scheibe, die ständig nach verdächtigen Gesichtern oder Streifenwagen Ausschau hielt. Das Smartphone ruhte wie ein totes Tier in ihrer Jackentasche, sie hatte vor lauter Aufregung vergessen, es aufzuladen. „Es ist wirklich wichtig, und Ihr Sohn ist der Einzige, der mir helfen kann.“

Es war bereits Nachmittag, sie mussten ihr Verschwinden längst bemerkt haben, und sie hatte lange gebraucht bis nach Schwetzingen mit diesen umständlichen Buslinien. Aber ein Taxi zu rufen hatte sie nicht gewagt. Der Fahrer hätte sich später an sie erinnert, er hätte sie auf der langen Fahrt mit neugierigen Fragen löchern können, und fünfunddreißig Euro waren eben fünfunddreißig Euro und keine Million. Sie wusste nicht, wie lange sie mit dem Geld würde auskommen müssen. Die Stimme der Alten verfärbte sich plötzlich, wurde schrill.

„Der Einzige, der Ihnen helfen kann, was? Das haben seine letzten beiden Klienten auch behauptet, und jetzt ist er …“

Daher wehte also der Wind. Die letzten Worte hatte sie nicht ganz verstanden, sie hatte den Hörer in die andere Hand gewechselt, als ein silber-blauer Wagen aus einer der Seitenstraßen abbog, aber es war nur ein Combi mit einer mehr oder weniger originellen Bierreklame gewesen.

„Bitte?“

„Sein Bein, ich sagte – was machst du denn hier? Ich dachte …“

Einen Moment lang hörte sie im Hintergrund einen Disput zwischen zwei Stimmen, überlagert vom Knacken des Apparates. Bitte, bitte nicht auflegen, dachte Melanie. Sie würde losheulen, wenn die Leitung jetzt zusammenbrach. Einen Augenblick herrschte Stille, und sie glaubte schon, dass alles vorbei wäre, dann meldete sich die Männerstimme, ein wenig atemlos, aber nicht unfreundlich.

„Ederle?“

„Mein Name ist Melanie Rademacher, ich bin die Tochter von Walter Rademacher“, keuchte Melanie. Jetzt, wo sie ihn tatsächlich an der Strippe hatte, wo sie dem Ziel ihrer Reise endlich näherzukommen hoffte, kam alles, was sie verdrängt hatte, auf einmal hoch. Die vielen unaussprechlichen Ängste der vergangenen Tage, dazu die Entkräftung durch die monatelange Katatonie, die sie in den eigenen Körper gesperrt hatte, verdichteten sich zu einem harten Gewinde, das ihr die Sprache nahm, und sie drohte, das Gleichgewicht zu verlieren. Vor ihren Augen schwankten die Reste der eingeschlagenen Scheibe, wie Speere näherten sie sich bedrohlich ihrem Gesicht. Sollte das nun das Ende von allem sein? Mit neunzehn an einem Herzanfall in einer Telefonzelle zu sterben? Ein Auto fuhr vorbei, aber sie hatte nicht einmal die Kraft, sich danach umzudrehen.

„Frau Rademacher? Sagen Sie doch was. Geht es Ihnen nicht gut? Von wo rufen Sie mich denn an?“

So viele Fragen. Melanie spürte eine leichte Übelkeit hinter dem Brustbein.



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